Ernst Toller - Das Schwalbenbuch

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Ich fasse das Leid nicht, das der Mensch dem Menschen zufügt. Sind die Menschen von Natur so grausam, sind sie nicht fähig, sich hineinzufühlen in die Vielfalt der Qualen, die stündlich, täglich Menschen erdulden?

Ich glaube nicht an die „böse“ Natur des Menschen, ich glaube, dass er das Schrecklichste tut aus Mangel an Phantasie, aus Trägheit des Herzens.

Habe ich nicht selbst, wenn ich von Hungersnöten in China, von Massakern in Armenien, von gefolterten Gefangenen auf dem Balkan las, die Zeitung aus der Hand gelegt und, ohne innezuhalten, mein gewohntes Tagewerk fortgesetzt? Zehntausend Verhungerte, tausend Erschossene, was bedeuteten mir diese Zahlen, ich las sie und hatte sie eine Stunde später vergessen. Aus Mangel an Phantasie. Wie oft habe ich Hilfesuchenden nicht geholfen. Aus Trägheit meines Herzens.

Würden Täter und Tatlose sinnlich begreifen, was sie tun und was sie unterlassen, der Mensch wäre nicht des Menschen ärgster Feind.

Die wichtigste Aufgabe künftiger Schulen ist, die menschliche Phantasie des Kindes, sein Einfühlungsvermögen zu entwickeln, die Trägheit seines Herzens zu bekämpfen und zu überwinden.

[Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland (Gesammelte Werke 4, herausgegeben von John M. Spalek, Wolfgang Frühwald). München: Carl Hanser Verlag 1978, S. 215
Dieser Text stammt aus einem Abschnitt, in dem es um die Schikanierung und willkürliche Behandlung der Gefängnisinsassen geht. Er fasst jedoch die aus der Kriegserfahrung resultierende Haltung Tollers so passend zusammen, als ob er dafür geschrieben worden wäre und wurde deshalb an dieser Stelle platziert.]

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Ich will das Lebendige durchdringen, in welcher Gestalt es sich auch immer zeigt. Ich will es mit Liebe umpflügen, aber ich will auch das Erstarrte, wenn es sein muss, umstürzen, um des Geistes willen. Ich will, dass niemand Einsatz des Lebens fordert, wenn er nicht selbst von sich weiß, dass er sein Leben einzusetzen willens ist, nicht nur das, dass er es einsetzen wird.

Was könnte ich Ihnen nun noch sagen? Dass ich glaube, wir müssen vor allen Dingen den Krieg, die Armut und den Staat bekämpfen, der letztlich nur die Gewalt und nicht das Recht (als Besitz) kennt, und an seine Stelle die Gemeinschaft setzen, wirtschaftlich gebunden durch den friedlichen Tausch von Arbeitsprodukten gegen gleichwertige andere, die Gemeinschaft freier Menschen, die durch den Geist besteht.

Zum Schluss nur noch, dass ich in meinem innersten Kern eine Ruhe spüre, die ist und mir die Freiheit gibt, dass ich in größter Ruhe leben, dass ich gegen Schmutz oder beschränkten Unverstand hitzig und erregt ankämpfen kann und mir diese innerste Ruhe doch bleibt.

[Aus einem Brief an Gustav Landauer, zitiert nach: Ernst Toller: Kritische Schriften, Reden und Reportagen (Gesammelte Werke 1, herausgegeben von John M. Spalek, Wolfgang Frühwald). München: Carl Hanser Verlag 1978, S. 35f]

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Im Rahmen des offenen Fensters sehe ich ihn, erhöht über der Masse unter den niederen Ziehwolken des regnerischen Abendrothimmels, schlank, schwarz und kalt. Er spricht kalt, noch beherrscht mit einem leisen Beleidigtsein, mit jener nervigen Eleganz, die durch seine Bewegungen sensibel vibriert. Und dann bricht er aus und schleudert eine rasende Anklage gegen alles, was Krieg heißt, in den trüben Septemberhimmel Leipzigs, über die graue unübersehbare Masse von sächsischen Arbeiterköpfen.

Dieser ist der Wort gewordene Wille der Massen, dieser ist die Anklage gewordene Klage des Leipziger Industriekulis, dies ist ein Ereignis! ... Er steht hier im Park wie Feuer in den Bäumen, ein Mann, jung schwarzhaarig, elektrisch, fast stammelnd vor Ergriffenheit, das Profil des Expressionisten ... Es ist der flammende Hass, der dort diesen hektischen Redner schüttelt. Der Hass auf den Krieg und die Kriegsstifter. Er weint, er ist erschüttert, und er erschüttert die Masse. Sie wissen, dieser ist kein glatter Paganini der Rhetorik ... Dieser ist Ernst Toller.

[Schilderung des Dramatikers Günther Weisenborn, zitiert nach: Richard Dove: Ernst Toller. Ein Leben in Deutschland, Göttingen: Steidl Verlag 1993, S. 168
Diese Charakterisierung als Redner anlässlich Tollers Rede vom 03.08.1924 in Leipzig findet sich ähnlich bezogen auf Reden vor seiner Haft. Sie wurde wegen ihrer besonderen Dramatik verwendet, auch wenn sie chronologisch erst nach dem Schwalbenbuch einzuordnen ist.]

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Ich würde mich nicht Revolutionär nennen, wenn ich sagte, niemals kann es für mich in Frage kommen, bestehende Zustände mit Gewalt zu ändern. Wir Revolutionäre anerkennen das Recht zur Revolution, wenn wir einsehen, dass Zustände nach ihren Gesamtbedingungen nicht mehr zu ertragen, dass sie erstarrt sind. Damit haben wir das Recht, sie umzustürzen.

Meine Herren Richter! Wenn Sie einmal zu den Arbeitern gehen und dort das Elend sehen, dann werden Sie verstehen, warum diese Menschen vor allen Dingen ihre materielle Notdurft befriedigen müssen. Aber in diesen Menschen ist auch ein tiefes Sehnen nach Kunst und Kultur. Der Kampf hat begonnen, und er wird nicht niedergehalten werden durch die Bajonette und Standgerichte der vereinigten kapitalistischen Regierungen der ganzen Welt.

Ich bin überzeugt, dass Sie nach bestem Wissen und Gewissen das Urteil sprechen. Aber nach meinen Anschauungen müssen Sie mir zugestehen, dass ich dieses Urteil nicht als Urteil des Rechts, sondern als ein Urteil der Macht hinnehmen werde.

[Aus Tollers Schlusswort beim Standgericht, zitiert nach: Ernst Toller: Kritische Schriften, Reden und Reportagen (Gesammelte Werke 1, herausgegeben von John M. Spalek, Wolfgang Frühwald). München: Carl Hanser Verlag 1978, S. 49ff ]

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