Ernst Toller - Das Schwalbenbuch

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Hier sind lyrische Texte gesammelt, die Tollers Schwalbenbuch weniger motivisch als intellektuell nahe stehen. „Die erste Schwalbe“ von Louise Otto hätte ihm sicher in ihrer Hinleitung zu einem revolutionären Impetus gefallen, bei Conrad Ferdinand Meyer fände er die positive Wirkung der Vögel auf einen Eingesperrten wieder. Bei Friedrich Rückert und Detlev von Liliencron sind sie eng mit dem Komplex Vergänglichkeit und Schicksal verknüpft. Friedrich Hebbel korrespondiert aufs Engste mit einer der zentralen Erkenntnisse des Schwalbenbuchs, dass nämlich alles Lebende töten muss. Arno Holz hingegen lässt sich von einem Schwalbennest wie Toller euphorisch inspirieren und Max Dauthendey denkt manches in die Vögel hinein, was Toller in seiner Zelle real erlebte.

 

Louise Otto (1819-1895)
Die erste Schwalbe

Die Lerche hat schon längst ihr Lied gesungen,
Gegrüßt den ersten warmen Sonnenstrahl,
Die Primeln sind beherzt hervorgedrungen
Und Blätterknospen folgen ohne Zahl.
Die neue Saat sprießt fröhlich schon hervor
Strebt aus der Erde Schoß zum Licht empor.

Ein Sänger nach dem andern kehret wieder,
Ein Blümchen nach dem andern kommt hervor,
Wir schauen auf die Dornen spähend nieder -
Da blaut und blüht ein ganzer Veilchenflor,
Und junges Grün ringsum das Aug' erquickt,
Das überall nach Lenzeszeichen blickt.

Nur eines fehlt und kluge Leute sprechen:
So lange wir noch keine Schwalbe sehn
Kann sich der Winter noch am Lenze rächen,
Kann alle seine Herrlichkeit verwehn
Durch Schnee und Sturm aus kaltem Ost und Nord -:
Die Schwalbe nur ist unsers Frühlings Hort.

Wir dürfen keinen Frühling je vertrauen
So lang' sich nicht die erste Schwalbe zeigt,
Noch nicht beginnt ihr trautes Nest zu bauen,
Noch nicht mit Zwitschern auf und niedersteigt,
Und fröhlich einzieht in den alten Kreis -
Sie erst bringt uns des Frühlings dauernd Reis.

Und also ist es auch im Völkerleben!
Schon manchmal ward ein hartes Joch gesprengt,
Schon manchmal hat es freie Flut gegeben
Und frisches Grün, das sich hervorgedrängt.
Schon manchmal schiens, als sei es Frühlingszeit -
Dann kam ein Sturm - und alles war verschneit!

Ein Warnungsruf! doch soll er uns nicht rauben
Das frohe Hoffen, dass es Frühling wird,
Den ewigen, den hohen Zukunftsglauben!
Er bleib in jedem Herzen unbeirrt.
Doch niemand sei in Sicherheit gewiegt,
So lange nicht zum Nest die Schwalbe fliegt.

So lange nicht zu uns aus schönem Süden
In jedes Haus ein Friedensbote kam -
So lange nicht am Herde, den wir hüten
Der Freiheit Lied ein jedes Ohr vernahm -
So lange nicht von allen Dächern reden
Nach kecker Schwalbenart die Volkspropheten!

 

 

Conrad Ferdinand Meyer (1825-1998)
Allerbarmen

An dem Bauerhaus vorüber
Schritt ich eilig, weil mir grauste,
Weil im dumpfen Hof ein trüber,
Brütender Kretine hauste.

Schaudernd warf ich einen halben
Blick in seinen feuchten Kerker -
Eben war die Zeit der Schwalben,
Wo sie baun an Dach und Erker.

Den Enterbten sah ich kauern,
Über seiner Lagerstätte
Blitzten Schwalben um die Mauern,
Nester bauend in die Wette.

Der erloschne Blick erfreute
Sich, in einem kleinen blauen
Raum das Werk der Schwalben heute,
Dieses kluge Werk zu schauen.

Blitzend kreiste das Geschwirre
An dem engen Horizonte,
Und das Lachen klang, das irre,
Drin sich doch der Himmel sonnte.

 

 

Friedrich Rückert (1788-1866)
Schwalbengruß

Die Schwalbe kam geflogen;
Kaum hatt' ich sie gesehn,
So ist sie weggezogen
In rauher Lüfte Weh'n.

Sie grüßte mich verstohlen,
Wie soll ich es verstehn?
Es klang wie »Gott befohlen«,
Nicht wie »auf Wiedersehn!«

 

 

Detlev von Liliencron (1844-1909)
Schwalbensiciliane

Zwei Mutterarme, die das Kindchen wiegen,
Es jagt die Schwalbe weglang auf und nieder.
Maitage, trautes Aneinanderschmiegen,
Es jagt die Schwalbe weglang auf und nieder.
Des Mannes Kampf: Sieg oder Unterliegen,
Es jagt die Schwalbe weglang auf und nieder.
Ein Sarg, auf den drei Handvoll Erde fliegen,
Es jagt die Schwalbe weglang auf und nieder.

 

 

Friedrich Hebbel (1813-1863)
Schwalbe und Fliege

An dem heitersten Morgen entstürzte die fröhlichste Schwalbe
Plötzlich dem Himmel und sank tot zu den Füßen mir hin.
Mittags, der längst Erstarrten den Schnabel öffnend, erspäht'

ich

Eine Fliege im Schlund, welche sie halb nur verschluckt.
Diese zappelte noch, ich zog sie hervor, und, die Flügel
Trocknend im Sonnenstrahl, schwirrte sie bald mir davon.

 

 

Arno Holz (1863-1929)


Ich möchte alle Geheimnisse wissen!

Alle Sterne, über die Meere rollen, schöpf ich mit meiner

Hand.

In meine Träume
drehn sich Welten,
und mich entzückt das kleinste Nest,
das im Sommer ein Schwalbenpaar
an meinem Giebel baut.

Das leiseste Zwitschern draus
rührt an mein Herz!

 

 

Max Dauthendey (1867-1918)
Die Schwalben schossen vorüber tief dir zu Füßen

Die Schwalben schossen vorüber tief dir zu Füßen,
Als sei ihr Flug ihr Zeichen tief dich zu grüßen.
Oft dünkten die Vögel am Himmel mich mehr klug
Wie mancher, den ich nach Wegen der Erde frug.
Schwalben, die früh bis spät in Freiheit schwammen,
Die halten sich in Liebe eng zusammen.
Sie bauen ihr Nest warm wie der Mensch sein Dach.
Sie fliegen von früh bis spät begeistert wach
Und eilen stets hurtig dem Weg ihres Herzens nach.

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