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Theodor Storm

Wenn man einen Schriftsteller auf wenige Begriffe reduziert, ist dies fast immer unrecht oder sägt an seinem Sockel. Eine doppelte Ausnahme ist Theodor Storm, der durchaus als norddeutsch-bürgerlicher Provinzdichter, bekenntnishaft-melancholischer Lyriker und sentimental-realisitischer Novellist umschreibbar ist, ohne damit diskreditiert zu sein. In diesen Rahmen kann er zu einem intensiven poetischen Erlebnis führen. Thematisch und stimmungsmäßig mögen die beiden folgenden kurzen Texte als Vorspiel zu Storms Spektrum dienen:

Lied des Harfenmädchens

Heute, nur heute
Bin ich so schön;
Morgen, ach morgen
Muss alles vergehn!

Nur diese Stunde
Bist du noch mein;
Sterben, ach sterben
Soll ich allein.

(Erstdruck 1851)

Die Möwe und mein Herz

Hin gen Norden zieht die Möwe,
Hin gen Norden zieht mein Herz;
Fliegen beide aus mitsammen,
Fliegen beide heimatwärts.

Ruhig, Herz! du bist zur Stelle;
Flogst gar rasch die weite Bahn -
Und die Möwe schwebt noch rudernd
Überm weiten Ozean.

(Nachlass)

Die Küste mit dem Watt und Deichen, die Heidelandschaft Nordfrieslands und Storms Heimatstadt Husum haben sich vielen Lesern durch seine bekanntesten Novellen "Immensee" und "Der Schimmelreiter", sein letztes Werk, eingeprägt. Doch begonnen hatte er mit der Lyrik, aus der das Erzählen erst erwuchs, um sie dann zu verschlucken, wie er selbst sinngemäß äußerte.
Mit seiner Heimat verbinden ihn Gedichte wie die folgenden:

Meeresstrand

Ans Haff nun fliegt die Möwe,
Und Dämmrung bricht herein;
Über die feuchten Watten
Spiegelt der Abendschein.

Graues Geflügel huschet
Neben dem Wasser her;
Wie Träume liegen die Inseln
Im Nebel auf dem Meer.

Ich höre des gärenden Schlammes
Geheimnisvollen Ton,
Einsames Vogelrufen -
So war es immer schon.

Noch einmal schauert leise
Und schweiget dann der Wind;
Vernehmlich werden die Stimmen,
Die über der Tiefe sind.

(Entstanden 1854/55)

Die Stadt

Am grauen Strand, am grauen Meer
Und seitab liegt die Stadt;
Der Nebel drückt die Dächer schwer,
Und durch die Stille braust das Meer
Eintönig um die Stadt.

Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai
Kein Vogel ohn Unterlass;
Die Wandergans mit hartem Schrei
Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei
Am Strande weht das Gras.

Doch hängt mein ganzes Herz an dir,
Du graue Stadt am Meer;
Der Jugend Zauber für und für
Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir,
Du graue Stadt am Meer.

(Erstdruck 1852)

Ostern

Es war daheim auf unserm Meeresdeich;
Ich ließ den Blick am Horizonte gleiten,
Zu mir herüber scholl verheißungsreich
Mit vollem Klang das Osterglockenläuten.

Wie brennend Silber funkelte das Meer,
Die Inseln schwammen auf dem hohen Spiegel,
Die Möwen schossen blendend hin und her,
Eintauchend in die Flut die weißen Flügel.

Im tiefen Kooge bis zum Deichesrand
War sammetgrün die Wiese aufgegangen;
Der Frühling zog prophetisch über Land,
Die Lerchen jauchzten und die Knospen sprangen. -

Entfesselt ist die urgewalt'ge Kraft,
Die Erde quillt, die jungen Säfte tropfen,
Und alles treibt, und alles webt und schafft,
Des Lebens vollste Pulse hör ich klopfen.

Der Flut entsteigt der frische Meeresduft;
Vom Himmel strömt die goldne Sonnenfülle;
Der Frühlingswind geht klingend durch die Luft
Und sprengt im Flug des Schlummers letzte Hülle.

O wehe fort, bis jede Knospe bricht,
Daß endlich uns ein ganzer Sommer werde;
Entfalte dich, du gottgebornes Licht,
Und wanke nicht, du feste Heimaterde! -

Hier stand ich oft, wenn in Novembernacht
Aufgor das Meer zu gischtbestäubten Hügeln,
Wenn in den Lüften war der Sturm erwacht,
Die Deiche peitschend mit den Geierflügeln.

Und jauchzend ließ ich an der festen Wehr
Den Wellenschlag die grimmen Zähne reiben;
Denn machtlos, zischend schoß zurück das Meer -
Das Land ist unser, unser soll es bleiben!

(1846, Erstdruck der endgültigen Fassung 1852)

In diesem letzten, völlig der Landschaft gewidmeten Gedicht, dessen Titel "Ostern" jeder christlichen Bedeutung entkleidet ist, wird Storms Agnostizismus deutlich (siehe auch Wie wenn das Leben... in TrauergedichteTrauergedichte). Nicht nur religiöse, sondern überhaupt weltanschauliche sowie politische Belange hielt er aus seiner Dichtung weitgehend heraus. Ob Zur Taufe (KindergedichteKindergedichte) oder am Weihnachtsabend (WeihnachtsgedichteWeihnachtsgedichte), alles verbleibt im rein familiären Rahmen, der bei einer samtpfotigen Invasion sogar humorig ausfallen kann. Dem muss dann mit "Crucifixus" die Ausnahme folgen, die nicht nur für diesen Autor sondern die damalige Zeit überhaupt an Schärfe nichts zu wünschen übrig lässt.

Von Katzen

Vergangnen Maitag brachte meine Katze
Zur Welt sechs allerliebste kleine Kätzchen,
Maikätzchen, alle weiß mit schwarzen Schwänzchen.
Fürwahr, es war ein zierlich Wochenbettchen!

Die Köchin aber - Köchinnen sind grausam,
Und Menschlichkeit wächst nicht in einer Küche -
Die wollte von den sechsen fünf ertränken,
Fünf weiße, schwarzgeschwänzte Maienkätzchen
Ermorden wollte dies verruchte Weib.

Ich half ihr heim! - der Himmel segne
Mir meine Menschlichkeit! Die lieben Kätzchen,
Sie wuchsen auf und schritten binnen kurzem
Erhobnen Schwanzes über Hof und Herd;
Ja, wie die Köchin auch ingrimmig drein sah,
Sie wuchsen auf, und nachts vor ihrem Fenster
Probierten sie die allerliebsten Stimmchen.

Ich aber, wie ich sie so wachsen sahe,
Ich preis mich selbst und meine Menschlichkeit. -

Ein Jahr ist um, und Katzen sind die Kätzchen,
Und Maitag ist's! - Wie soll ich es beschreiben,
Das Schauspiel, das sich jetzt vor mir entfaltet!

Mein ganzes Haus, vom Keller bis zum Giebel,
Ein jeder Winkel ist ein Wochenbettchen!

Hier liegt das eine, dort das andre Kätzchen,
In Schränken, Körben, unter Tisch und Treppen,
Die Alte gar - nein, es ist unaussprechlich,
Liegt in der Köchin jungfräulichem Bette!

Und jede, von den sieben Katzen
Hat sieben, denkt euch! sieben junge Kätzchen,
Maikätzchen, alle weiß mit schwarzem Schwänzchen!

Die Köchin rast, ich kann der blinden Wut
Nicht Schranken setzen dieses Frauenzimmers;
Ersäufen will sie alle neunundvierzig!

Mir selber, ach, mir läuft der Kopf davon -
O Menschlichkeit, wie soll ich dich bewahren!

Was fang ich an mit sechsundfünfzig Katzen! -

(Erstdruck 1846)

Crucifixus

Am Kreuz hing sein gequält Gebeine,
Mit Blut besudelt und geschmäht;
Dann hat die stets jungfräulich reine
Natur das Schreckensbild verweht.

Doch die sich seine Jünger nannten,
Die formten es in Erz und Stein,
Und stellten's in des Tempels Düster
Und in die lichte Flur hinein.

So, jedem reinen Aug ein Schauder,
Ragt es herein in unsre Zeit;
Verewigend den alten Frevel,
Ein Bild der Unversöhnlichkeit.

(1865, Erstdruck 1871)

Weniger als in religiösen distanzierte sich Storm in politischen Belangen, beteiligte sich an der Volkserhebung gegen die dänische Obrigkeit ab 1848, so dass ihm die Zulassung als Rechtsanwalt entzogen wurde. 1852 nach Berlin übersiedelt, beförderten Kritik am preußischen Staatsmechanismus und seine republikanische Überzeugung seine ohnehin schwierige Lage, bevor er, ab 1856 als Kreisrichter nach Heiligenstadt (Thüringen) versetzt, im Gefolge des dänisch-deutschen Krieges 1864 von der Husumer Bevölkerung als Landvogt berufen und von der nun preußischen Verwaltung zum Amtsgerichtsrat ernannt wurde.

Der Poesie hielt er diese Lebenswirren überwiegend fern, schrieb ebenso kaum über Berufsalltag und Karriere, sieht man von diesen beiden sehr charakteristischen Epigrammen ab:

Am Aktentisch

Da hab ich den ganzen Tag dekretiert;
Und es hätte mich fast wie so manchen verführt:
Ich spürte das kleine dumme Vergnügen,
Was abzumachen, was fertigzukriegen.

(Erstdruck 1856)

Welt-Lauf

Wer der Gewalt genüber steht
In Sorgen für der Liebsten Leben,
Der wird zuletzt von seinem Ich
Ein Teil und noch ein Teilchen geben.
Und dürstet er nach reinster Luft,
Er wird zuletzt ein halber Schuft.

(Nachlass)

Den weiteren Schwerpunkt in Storms Lyrik bildet, seinem melancholischen Gemüt entsprechend, die Vergänglichkeit alles Lebens, insbesondere der erotischen Passion. Dieser misst er zwar den höchsten Wert zu, wie er emphatisch in Wer je gelebt in Liebesarmen (LiebesgedichteLiebesgedichte) zum Ausdruck bringt, aber Erfüllung und Dauer bleiben versagt. Hintergrund sind die Liebeswirren, in die ihn sein tief entflammbarer Eros trieb. Nach einer unglücklichen Jugendliebe flüchtete er sich zu seiner Cousine Constanze Esmarch, Bürgermeistertochter aus Segeberg, was 1846 zur Hochzeit führte. Doch im Jahr darauf richtete sich seine Leidenschaft auf die neunzehnjährige Senatorentochter Dorothea »Do« Jensen, die ihm schließlich entsagte und Husum verließ. Erst Constanzes Tod bei der Geburt ihres 7. Kindes 1865 erlaubte Storm im Folgejahr die Heirat mit Do, von der er zu dieser Zeit in einem Brief sagte: "Die Hälfte meiner Poesie gehörte ihr."

Doch du bist fern

Doch du bist fern, und meine Jugend muss
Von dir vereinzelt in sich selbst verlodern;
Ich kann dir nicht, wie meine Brust begehrt,
Das Höchste geben und das Höchste fordern.

Kaum darf ich hoffen, dass die späte Zeit
Noch unsre welken Hände mög vereinen,
Damit wir das verlorne Jugendglück
Vereinigt, doch vergebens dann beweinen.

(Nachlass)

Die Stunde schlug

Die Stunde schlug, und deine Hand
Liegt zitternd in der meinen,
An meine Lippen streiften schon
Mit scheuem Druck die deinen.

Es zuckten aus dem vollen Kelch
Elektrisch schon die Funken;
O fasse Mut, und fliehe nicht,
Bevor wir ganz getrunken!

Die Lippen, die mich so berührt,
Sind nicht mehr deine eignen;
Sie können doch, solang du lebst,
Die meinen nicht verleugnen.

Die Lippen, die sich so berührt,
Sind rettungslos gefangen;
Spät oder früh, sie müssen doch
Sich tödlich heimverlangen.

(Entstanden 1848, Erstdruck 1852)

Nun sei mir heimlich zart und lieb

Nun sei mir heimlich zart und lieb;
Setz deinen Fuß auf meinen nun!
Mir sagt es: ich verließ die Welt,
Um ganz allein auf dir zu ruhn;

Und dir: o ließe mich die Welt,
Und könnt ich friedlich und allein,
Wie deines leichten Fußes jetzt,
So deines Lebens Träger sein!

(Entstanden 1846; Erstdruck 1852)

Aus der Flüchtigkeit des Lebens überhaupt, dem dominierenden Phänomen in Storms Welterleben, wird im berühmten Oktoberlied (HerbstgedichteHerbstgedichte) noch ein robustes Carpe Diem gewonnen. Doch deutet manches in seinen Versen auf das Schicksal seiner letzten Jahre voraus, bis er, acht Jahre zuvor pensioniert, 1888 dem Magenkrebs erlag.

Die Zeit ist hin

Die Zeit ist hin; du löst dich unbewusst
Und leise mehr und mehr von meiner Brust;
Ich suche dich mit sanftem Druck zu fassen,
Doch fühl ich wohl, ich muss dich gehen lassen.

So lass mich denn, bevor du weit von mir
Im Leben gehst, noch einmal danken dir;
Und magst du nie, was rettungslos vergangen,
In schlummerlosen Nächten heimverlangen.

Hier steh ich nun und schaue bang zurück;
Vorüber rinnt auch dieser Augenblick,
Und wieviel Stunden dir und mir gegeben,
Wir werden keine mehr zusammen leben.

(Erstdruck 1852)

Beginn des Endes

Ein Punkt nur ist es, kaum ein Schmerz,
Nur ein Gefühl, empfunden eben;
Und dennoch spricht es stets darein,
Und dennoch stört es dich zu leben.

Wenn du es andern klagen willst,
So kannst du's nicht in Worte fassen.
Du sagst dir selber: »Es ist nichts!«
Und dennoch will es dich nicht lassen.

So seltsam fremd wird dir die Welt,
Und leis verlässt dich alles Hoffen,
Bist du es endlich, endlich weißt,
Dass dich des Todes Pfeil getroffen.

(1864, gedruckt 1868)

 

Webtipps Theodor Storm Theodor Storm im Internet

Der Mittelpunkt im Umgang mit Theodor Storm ist seine Heimatstadt Husum. Was es an Publikationen und Veranstaltungen gibt, was Stormmuseum und -archiv zu bieten haben, kann man auf den Seiten der Theodor-Storm-Gesellschaft nachlesen.
Storm bei Xlibris bietet die Grundversorgung zu Biographie und Bibliographie, dazu Einführungen beispielsweise für "Der Schimmelreiter" und "Immensee".
In der Lyriksammlung Klaus Pommerenings sind die Storm-Gedichte komplett zu finden.

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