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Rainer Maria RilkeRainer Maria Rilke

fordert mit seinem dichterischen Werk dazu auf und ermöglicht durch seine Sprachgebung wie sonst kaum jemand, die Welt anders wahrnehmen.
Immer wieder stellen seine Worte überraschende Bezüge, Perspektiven, Zusammenhänge her, und oft sind es die feinen Nuancen, die einen staunenden Blick auf Welt, Sprache und ihr Zusammenwirken erzeugen.
Wie ein einladendes Programm dazu kann man diesen Text verstehen:

Eingang

Wer du auch seist:
am Abend tritt hinaus
aus deiner Stube, drin du alles weißt;
als letztes vor der Ferne liegt dein Haus
wer du auch seist.
Mit deinen Augen, welche müde kaum
von der verbrauchten Schwelle sich befrein,
hebst du ganz langsam einen schwarzen Baum
und stellst ihn vor den Himmel: schlank, allein.
Und hast die Welt gemacht. Und sie ist groß
und wie ein Wort, das noch im Schweigen reift.
Und wie dein Wille ihren Sinn begreift,
lassen sie deine Augen zärtlich los...

(aus: Das Bucht der Bilder, 1902)

In besonderer Intensität evozieren die beiden wohl berühmtesten Gedichte Rilkes diesen verbalen und sinnlich-geistigen Ansporn, anders und neu wahrzunehmen. Das gilt für die Raubkatze im Zoo, in die man sich hineinversetzt spürt, ebenso wie für ein antikes Kunstwerk und gipfelt im Schlussvers "Du mußt dein Leben ändern".

Der Panther

Im Jardin des Plantes, Paris

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein.

(aus: Neue Gedichte, 1907)

Archaischer Torso Apollos

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber 
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, 
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug 
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen 
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen 
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz 
unter der Schultern durchsichtigem Sturz 
und flimmerte nicht wie Raubtierfelle;

und bräche nicht aus allen seinen Rändern 
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, 
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.

(aus: Neue Gedichte, 1907)

Die poetischen Ansprüche, die Rilke mit diesen Paradestücken seines Konzeptes der Dinggedichte unter völligem Verzicht auf ein lyrisches Ich einlöste, hat er selber in Versen formuliert, die Pflichtlektüre all der Gedichteschreiber sein sollten, die Lyrik lediglich als Auffangbecken ihrer Emotionen betrachten:

O alter Fluch der Dichter,
die sich beklagen, wo sie sagen sollten,
die immer urteiln über ihr Gefühl
statt es zu bilden; die noch immer meinen,
was traurig ist in ihnen oder froh,
das wüßten sie und dürftens im Gedicht
bedauern oder rühmen. Wie die Kranken
gebrauchen sie die Sprache voller Wehleid,
um zu beschreiben, wo es ihnen wehtut,
statt hart sich in die Worte zu verwandeln,
wie sich der Steinmetz einer Kathedrale
verbissen umsetzt in des Steines Gleichmut.

(aus: Requiem für Wolf Graf von Kalckreuth,
4.-5.11.1908, Paris)

Doch um sich in "des Steines [oder Verses] Gleichmut" versetzen zu können, ist eine Sensibilität erforderlich, die auch eine Kehrseite und Gefährdung impliziert:

Ich fürcht mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle Dinge um.

(aus: Mir zur Feier, 1909)

Hier klingt eines von Rilkes zentralen Themen an, bei dem seine abweichende Wahrnehmung und Sprachgebung besonders auffällt, und das er so anspricht, während er mit Toten vertrauten Umgang pflegt:

Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.

("Schlussstück"aus: Das Buch der Bilder, 1902)

Komm her ins Kerzenlicht. Ich bin nicht bang,
die Toten anzuschauen. Wenn sie kommen,
so haben sie ein Recht, in unserm Blick
sich aufzuhalten, wie die andern Dinge.
Komm her; wir wollen eine Weile still sein.

(aus: Requiem für eine Freundin, 31.10.-2.11.1908, Paris)

Mit "Freundin" ist die expressionistische Malerin Paula Modersohn-Becker (1876-1907) gemeint, die 1906 ein nicht ganz vollendetes Rilke-Porträt geschaffen hat.

Rainer Maria Rilke - Porträt von Paula Modersohn-Becker

 

Das Sein ist für Rilke reine Immanenz, d.h. auch üblicherweise transzendent angenommene Wesen oder Zustände wie Tod, Tote, Engel und Gott sind präsent, real erfahrbar. Wie diese in sachlichen Worten kaum fassbaren Einsichten auf dem Gipfel von Rilkes Werk zum Klingen kommen, den Sonetten an Orpheus, einem im Februar 1922 in Muzot/Wallis entstandenen Zyklus, muss für sich selbst sprechen. Den Ausklang bildet dann die Perspektive der pantheistisch durchdrungen Natur selbst, die als "dunkelnder Grund" angeredet ist.

Wir gehen um mit Blume, Weinblatt, Frucht.
Sie sprechen nicht die Sprache nur des Jahres.
Aus Dunkel steigt ein buntes Offenbares
und hat vielleicht den Glanz der Eifersucht

der Toten an sich, die die Erde stärken.
Was wissen wir von ihrem Teil an dem?
Es ist seit lange ihre Art, den Lehm
mit ihrem freien Marke zu durchmärken.

Nun fragt sich nur: tun sie es gern?...
Drängt diese Frucht, ein Werk von schweren Sklaven,
geballt zu uns empor, zu ihren Herrn?

Sind sie die Herrn, die bei den Wurzeln schlafen,
und gönnen uns aus ihren Überflüssen
dies Zwischending aus stummer Kraft und Küssen?

(aus: Sonette an Orpheus, Teil I Nr. 14, 1922)

O diese Lust, immer neu, aus gelockertem Lehm!
Niemand beinah hat den frühesten Wagern geholfen.
Städte entstanden trotzdem an beseligten Golfen,
Wasser und Öl füllten die Krüge trotzdem.

Götter, wir planen sie erst in erkühnten Entwürfen,
die uns das mürrische Schicksal wieder zerstört.
Aber sie sind die Unsterblichen. Sehet, wir dürfen
jenen erhorchen, der uns am Ende erhört.

Wir, ein Geschlecht durch Jahrtausende: Mütter und Väter,
immer erfüllter von dem künftigen Kind,
dass es uns einst, übersteigend, erschüttere, später.

Wir, wir unendlich Gewagten, was haben wir Zeit!
Und nur der schweigsame Tod, der weiß, was wir sind
und was er immer gewinnt, wenn er uns leiht.

(aus: Sonette an Orpheus, Teil II Nr. 24, 1922)

Du dunkelnder Grund, geduldig erträgst du die Mauern.
Und vielleicht erlaubst du noch eine Stunde den Städten zu dauern
und gewährst noch zwei Stunden den Kirchen und einsamen Klöstern
und lässest fünf Stunden noch Mühsal allen Erlöstern
und siehst noch sieben Stunden das Tagwerk des Bauern -:

Eh du wieder Wald wirst und Wasser und wachsende Wildnis
        in der Stunde der unfaßlichen Angst,
        da du dein unvollendetes Bildnis
           von allen Dingen zurückverlangst.

Gieb mir noch eine kleine Weile Zeit: ich will die Dinge so wie keiner                                                                                                             lieben,
        bis sie dir alle würdig sind und weit.
        Ich will nur sieben Tage, sieben
        auf die sich keiner noch geschrieben,
           sieben Seiten Einsamkeit.

Wem du das Buch giebst, welches die umfaßt,
der wird gebückt über den Blättern bleiben.
Es sei denn, daß du ihn in Händen hast,
   um selbst zu schreiben.

(aus: Das Stundenbuch - Das Buch vom Mönchischen Leben, 1899)

Webtipps Rilke Rilke im Internet

Mit Rilke.de hat Thilo von Pape dem Dichter eine Heimstatt im Internet eingerichtet. Neben den meisten Werken, einer Biographie und Linkliste kann man auch in einem Forum Rilke-Austausch pflegen.
Eine weitere umfassend angelegte Seite, allerdings nur mit ausgewählten Texten, ist rilke-gedichte.de. Für einen schnellen Überblick zu Rilkes Leben und Schriften ist die Adresse Rainer Maria Rilke empfehlenswert.
Die Internationale Rilke Gesellschaft informiert nicht nur über ihre Publikationen und Veranstaltungen, sie hat auch eine umfassende, herunterladbare Bibliographie, eine detailreiche Chronologie sowie ein Forum im Netz.

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