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Gedichte zum NachdenkenGedichte zum Nachdenken

Die Frage bleibt

Halte dich still, halte dich stumm,
Nur nicht forschen, warum? warum?

Nur nicht bittre Fragen tauschen,
Antwort ist doch nur wie Meeresrauschen.

Wie's dich auch aufzuhorchen treibt,
Das Dunkel, das Rätsel, die Frage bleibt.

(Theodor Fontane, 1819-1898)

Wenn wir diesem Gedanken folgen, wäre die hiesige Auswahl sogleich wieder zu schließen. Doch was auch noch folgt an schlauer oder kluger Lyrik: Theodor FontaneTheodor Fontanes letzten Vers wird sie nicht in Frage stellen. Selbst wenn man die Wahrheit nicht heraus bringt, so ist der Prozess des Nachdenkens keinesfalls nur frustrierend und vergeblich. So genießt Giacomo Leopardi seine melancholische Solitude durchaus, Friedrich Nietzsches anarchischer Einsamer verliert und verführt sich zu sich selbst, und Arno Holz phantasiert sich durch alle Weiten und Ewigkeiten zurück zur Natur.

L´Infinito

Immer lieb war mir dieser einsame
Hügel und das Gehölz, das fast ringsum
ausschließt vom fernen Aufruhn der Himmel
den Blick. Sitzend und schauend bild ich unendliche
Räume jenseits mir ein und mehr als
menschliches Schweigen und Ruhe vom Grunde der Ruh.
Und über ein Kleines geht mein Herz ganz ohne
Furcht damit um. Und wenn in dem Buschwerk
aufrauscht der Wind, so überkommt es mich, dass ich
dieses Lautsein vergleiche mit jener endlosen Stillheit.
Und mir fällt das Ewige ein
und daneben die alten Jahreszeiten und diese
daseiende Zeit, die lebendige, tönende. Also
sinkt der Gedanke mir weg ins Übermaß. Unter-
gehen in diesem Meer ist inniger Schiffbruch.

(Giacomo Leopardi, 1798-1837;
aus dem Italienischen von Rainer Maria Rilke.
L'Infinito = Die Unendlichkeit)

Der Einsame

Verhasst ist mir das Folgen und das Führen.
Gehorchen? Nein! Und aber nein - Regieren!
Wer sich nicht schrecklich ist, macht niemand Schrecken:
Und nur wer Schrecken macht, kann andre führen.
Verhasst ist mirs schon, selber mich zu führen!
Ich liebe es, gleich Wald- und Meerestieren,
mich für ein gutes Weilchen zu verlieren,
in holder Irrnis grüblerisch zu hocken,
von ferne her mich endlich heimzulocken,
mich selber zu mir selber - zu verführen.

(Friedrich Nietzsche, 1844-1900)

 

Sieben Septillionen Jahre
zählte ich die Meilensteine am Rande der Milchstrasse.

Sie endeten nicht.

Myriaden Äonen
versank ich in die Wunder eines einzigen Tautröpfchens.

Es erschlossen sich immer neue.

Mein Herz erzitterte!

Selig ins Moos
streckte ich mich und wurde Erde.

Jetzt ranken Brombeeren
über mir,
auf einem sich wiegenden Schlehdornzweig
zwitschert ein Rotkehlchen.

Aus meiner Brust
springt fröhlich ein Quell,
aus meinem Schädel
wachsen Blumen.

(Arno Holz, 1863-1929)

Nachdenken im engeren Sinn, also Forschen und Analysieren, verbindet die folgenden Gedichte, die vom alten China und Britannien bis ins 20. Jahrhundert reichen. Während Taliesin, Johann Wolfgang von GoetheJohann Wolfgang von Goethe und Laotse abstrakte Wege der Erkenntnis betreten, drückt sich Gottlieb Konrad Pfeffel in einem drastischen Bild aus. Immer jedoch sind es unweigerlich sprachliche Mittel, präzise Worte, die dem das Beet für die sprießenden Gedanken bereiten.

 

Weißt du, wo die Nacht bleibt,
wenn sie dem Lauf des Tages folgt?
Kennst du das Zeichen?
Hast du der Bäume Blätter gezählt?
Weißt du, wer die Berge baute
vor dem Sturz der Elemente?
Weißt du, wer die belebte Erde stützt?

Die Seele klagt, weiß keine Antwort.
Wer hat es erschaut? Wer weiß das alles?

Ich achte die Bücher
wie auch das, was sie nicht wissen.

(Taliesin, 5. Jh.; aus dem Walisischen von ??)

Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen,
Und haben sich, eh' man es denkt, gefunden;
Der Widerwille ist auch mir verschwunden,
Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.

Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!
Und wenn wir erst in abgemess'nen Stunden
Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden,
Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.

So ist's mit aller Bildung auch beschaffen:
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.

Wer Großes will, muss sich zusammenraffen;
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.

(Johann Wolfgang von Goethe, 1749-1832)

Die Maden

Ein wimmelnder Convent von Käsemaden
Ergoß bey seinem Abendschmaus
Sich in bitterste Jeremiaden:
Man muß gestehn, so rief er aus,
Daß niemand in der Kunst zu schaden
Dem Menschen gleicht. Es ist ihm nicht genug,
Daß er sich von dem Käse nähret,
Der uns beherbergt; oft wird ohne Fug
Auch unsre ganze Brut mit aufgezehret,
Die Kannibalen! Ey ihr dürftet sie,
Sprach hier das Oberhaupt der Colonie,
Im grunde darum nicht beneiden;
Denn wißt, wenn sie zu Grabe gehen,
So werden wir in ihren Eingeweiden
Nach wenig Tagen auferstehn,
Und unsere Rache nicht vergessen,
Wer andre frißt, wird endlich auch gefressen.

(Gottlieb Konrad Pfeffel, 1736-1809)

 

Wenn auf Erden alle das Schöne als schön erkennen,
so ist dadurch schon das Hässliche gesetzt.
Wenn auf Erden alle das Gute als gut erkennen,
so ist dadurch schon das Nichtgute gesetzt.
Denn Sein und Nichtsein erzeugen einander.
Schwer und Leicht vollenden einander.
Lang und Kurz gestalten einander.
Hoch und Tief verkehren einander.
Stimme und Ton sich vermählen einander.
Vorher und Nachher folgen einander.

Also auch der Berufene:
Er verweilt im Wirken ohne Handeln.
Er übt Belehrung ohne Reden.
Alle Wesen treten hervor,
und er verweigert sich ihnen nicht.
Er erzeugt und besitzt nicht.
Er wirkt und behält nicht.
Ist das Werk vollbracht,
so verharrt er nicht dabei,
Und eben weil er nicht verharrt,
bleibt er nicht verlassen.

(Laotse, Taoteking 2;
aus dem Chinesischen von Richard Wilhelm)

Von solchen philosophischen Gedankengängen kehren wir zur - der Lyrik eigentlich gemäßeren - Einheit von Gedanken und Erleben zurück. Wer die folgenden beiden Texte von Friedrich Nietzsche und Georg TraklGeorg Trakl laut rezitiert, sich ihrem Wortlaut, vielleicht auch mehrfach, hingibt, vermag möglicherweise selber direkt und sinnlich die dem Denken nachgehende Wirkung von Litaneien oder Mantras nachvollziehen. Denken, Sprache, Sinnlichkeit, letztlich aber auch Offenheit und Leere fließen auf solchen Wegen zu einer Einheit zusammen.

 

O Mensch! Gib acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
"Ich schlief, ich schlief -,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht: -
Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht,
Tief ist ihr Weh -,
Lust - tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit -,
- will tiefe, tiefe Ewigkeit!"

(Friedrich Nietzsche, 1844-1900)

Rondel

Verflossen ist das Gold der Tage,
Des Abends braun und blaue Farben:
Des Hirten sanfte Flöten starben
Des Abends blau und braune Farben
Verflossen ist das Gold der Tage.

(Georg Trakl, 1887-1914)

 

Webtipps Gedichte zum Nachdenken Gedichte zum Nachdenken im Internet

Eine solche Sammlung findet man bei Gedankenlyrik in Gedichte für alle Fälle; von dort stammen auch die Texte hier.
Zur Beschäftigung mit Laotses Taoteking lassen sich auf der verlinkten Seite viele Anknüpfungspunkte finden.

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