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Erich Fried

Wenn man
über einen Dichter sagt,
er schrieb
Gedichte für Menschen,
die eigentlich keine lesen.
Ist das dann
ein Kompliment?
Oder -
eine Beleidigung?

Dies ist kein Gedicht von Erich Fried, obwohl es ein typisches Merkmal Friedscher Gedichte enthält: Das Fragezeichen. Und ja, Erich Fried schrieb Gedichte für Menschen, die eigentlich keine lesen. Kaum ein Dichter ist in Deutschland so viel gelesen und diskutiert worden wie Erich Fried. Und das ginge gar nicht, wenn ihn nur ein lyrikerprobtes Publikum wahrgenommen hätte. Sein Rezept:

Ich glaube, man schreibt eigentlich alle Gedichte zunächst einmal für sich selbst, möglichst ehrlich. Weil ein Dichter ein Mensch ist, der sich von anderen Menschen nicht grundlegend unterscheidet, ist es möglich, daß seine Formulierungen auch anderen Menschen etwas sagen können.

(Erich Fried in einem Interview 1980, Rudolf Wolff (Hrsg.): Erich Fried - Gespräche und Kritiken. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1986, S. 38)

Erich Fried wurde am 6.5.1921 in Wien geboren. Mit 17 Jahre floh er aus Österreich vor den Nazis nach England.

Ich kam nach England ins jüdische Flüchtlingskomitee. Zuerst wurde ich registriert. Man fragte mich, was meine Berufsabsichten sind. Ich sagte, ich habe vor ein deutscher Dichter zu werden. Und die gingen an die Decke ...

(Erich Fried in: Joern Schlund, „Habe Angst vor dem, der keine Zweifel kennt“ – Gespräche mit Erich Fried, Z-Verlag, Basel 1988, S. 20)

An seinem Ziel, deutscher Dichter zu werden, hielt er fest, obwohl er auch nach dem Krieg weiter in England lebte. Er arbeitete für die BBC, übersetzte Theaterstücke ins Deutsche und - schrieb Gedichte. 1958 erschien ein Sammelband im Claassen Verlag, doch sein Durchbruch war letztlich das 1966 veröffentlichte Buch und Vietnam und.

Frieds Verse sind die eindrucksvollen Gedichte eines Betroffenen, der mit Paradox und Satire, Schock und Dialektik, Wort- und Sinnspiel darauf hinzielt, uns zum Nachdenken zu bringen.

(Jürgen P. Wallmann 1968 in: Rudolf Wolff (Hrsg.): Erich Fried - Gespräche und Kritiken, Bouvier Verlag Herbert Grundmann, Bonn 1986, S. 65)

Er [Erich Fried] hatte mit einem Schlag nicht nur seine Handschrift gewonnen, sondern darüber hinaus auch das politische Gedicht in Westdeutschland wieder aktualisiert, so daß man mit diesem Band die Wende der deutschen Lyrik zur Gegenwart datieren kann.

Michael Zeller 1982 in: Rudolf Wolff (Hrsg.): Erich Fried - Gespräche und Kritiken. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1986, S. 102)

Beliebt machte er sich mit seiner Kritik am Krieg der USA in Vietnam nicht und auch sonst musste ein wohlangepasster deutscher Bürger den Eindruck bekommen, dass dieser Mensch einfach gegen alles war:

Während der Studentenbewegung sagte man: „All diese Dinge: Staat, Schule, Kirche – das ist Scheiße.“ Ich würde das nicht so sagen, einerseits ist das eine Überschätzung, denn Exkremente sind ein unbedingt notwendiges Produkt des Körpers und die unbedingte Notwendigkeit der Kirche, der Schule und des Staates müßte erst bewiesen werden. Aber andrerseits sind in diesen Institutionen alle Elemente der Entfremdung, der Verfälschung und des Unrechts enthalten, je autoritärer sie sind, desto mehr.

(Erich Fried in: Joern Schlund, „Habe Angst vor dem, der keine Zweifel kennt“ – Gespräche mit Erich Fried. Basel: Z-Verlag 1988, S. 68)

Ob Auschwitz, Vietnam oder Israel, Studentenbewegung, Neonazismus, Naturzerstörung, Erich Fried wollte wissen, verstehen, erklären. Warnen und mahnen. Nicht nur seine Lyrik, seine ganze Person war auf den Kontakt, das Gespräch mit dem Leser aus.

(Ulla Hahn, in: Volker Kaukereit (Hrsg.): Interpretationen – Gedichte von Erich Fried. Stuttgart: Reclam Verlag 1999, S. 12)

Obwohl Erich Fried wortgewaltig deutsche Selbstverständlichkeiten in Frage stellte und sogar seine Sympathie zu Ulrike Meinhoff bekundete, blieb es bei der Wortgewalt, denn körperliche Gewalt – das war für ihn klar – konnte nicht die Lösung sein:

Die Maßnahmen

Die Faulen werden geschlachtet
Die Welt wird fleißig

Die Häßlichen werden geschlachtet
Die Welt wird schön

Die Narren werden geschlachtet
die Welt wird weise

Die Kranken werden geschlachtet
die Welt wird gesund

Die Traurigen werden geschlachtet
die Welt wird lustig

Die Alten werden geschlachtet
die Welt wird jung

Die Feinde werden geschlachtet
die Welt wird freundlich

Die Bösen werden geschlachtet
die Welt wird gut

(Volker Konkoreit, Klaus Wagenbach (Hrsg.): Erich Fried - Gesammelte Werke Bd. 1. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 1993)

Trotzdem machte er sich in gewissen Kreisen verdächtig, und wie man heute wieder weiß, wenn es um Terror-Hysterie geht, reicht ein Verdacht, um loszuschlagen:

Der Landesparteitag der Bremer CDU hat einstimmig die Auffassung vertreten, daß mit der Behandlung von Gedichten des Lyrikers Erich Fried als Unterrichtsmaterial in Schulen „der Ideologie von politisch motivierter Gewalt Vorschub geleistet“ werde.

(FAZ 21.11.1977 zitiert nach Rudolf Wolff (Hrsg.): Erich Fried - Gespräche und Kritiken. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1986, S. 131)

Erich Fried wurde von seinen Zeitgenossen in erster Linie als politischer Dichter wahrgenommen. Das wird in Würdigungen, Einschätzungen und Kritiken immer wieder deutlich:

Erich Fried schreibt Zeitgedichte. Das offenbart schon der Titel Das Nahe suchen. Den Beunruhigungen nachgehen, die Dinge beim Namen nennen, das Unrecht als Unrecht, den Haß als Haß, die Lüge als Lüge entlarven und den grausamen Popanz Krieg vom Sockel seiner falschen Notwendigkeit stoßen – diese Nähe, die Erich Fried zu den Ereignissen sucht, hat ihm viele Feinde gemacht ...

(Herbert Heckmann, Rede anlässlich der Verleihung des Bremer Literaturpreises 1983, in Rudolf Wolff (Hrsg.): Erich Fried - Gespräche und Kritiken. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1986, S. 9)

Vielleicht wird eines Tages jemand über Erich Fried zu dem Urteil gelangen, er habe einige der schlechtesten und einige der besten Gedichte seiner Zeit geschrieben; und vielleicht wird er differenzierend hinzufügen: einige der besten politischen ... Gedichte.

(Helmut Mader, Die Zeit 1968, zitiert nach: Rudolf Wolff (Hrsg.): Erich Fried - Gespräche und Kritiken. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1986, S. 80)

Das Spiel mit den Wörtern und den Redensarten wurde zu einem Kennzeichen seiner Kunst – und ist es auch geblieben, obwohl Frieds Lyrik weitgehend nur als ideologisch oder politisch engagierte gelesen und gewertet wird.

(Michael Hamburger in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Text + Kritik Zeitschrift für Literatur, 91 Erich Fried, 1986, S. 96)

Frieds erfolgreichster Gedichtband war jedoch ganz und gar unpolitisch. Seine Liebesgedichte erschienen 1979. Und wie das so ist, wenn ein Dichter nicht das liefert, was von ihm erwartet wird, die Kritik ist erbarmungslos:

Fried wird nächstes Jahr 60 Jahre alt, aber wenn man seine Liebesgedichte liest, möchte man meinen, er werde 16 Jahre alt ...
Man mag ja alles mögliche denken und sagen, wenn man verliebt ist, und besonders einfallsreich ist man dabei wohl auch nicht. Aber gerade deshalb braucht man das dann auch nicht unbedingt hinschreiben und drucken lassen.

(Jörg Drews 1980 in: Rudolf Wolff (Hrsg.): Erich Fried - Gespräche und Kritiken. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1986, S. 163)

1983 folgte der Band mit dem Titel seines bekanntesten Gedichts: Was es ist. Dieses Gedicht übertrug die alttestamentarische Gottesformel „Ich bin, der ich bin“ auf die Liebe, die allen Zweifeln mit „Es ist, was es ist“ begegnet.

Erich Fried starb am 22.11.1988 in Baden-Baden, wo er sich für Dreharbeiten zu einer Fernsehsendung aufhielt. Obwohl der Tod die ultimative Antwort auf alle Fragen parat hat, wäre Erich Fried nicht Erich Fried, wenn nicht noch einige Fragen offen geblieben wären:

Literatur

Worte schreiben
nach denen man
nicht mehr weiter
leben kann wie bisher

und dann doch weiterleben
fast wie bisher
Ist das Mut
oder waren das Lügen?

Worte schreiben
an denen man
stirbt
und an ihnen

doch nicht sterben
oder doch nicht sofort
Ist das Lebenskraft
oder ist das Schwäche?

Nichts als Leben und Sterben
Nichts als Worte
Nichts als Schreiben
Nichts weiter als immer weiter?

(Volker Konkoreit, Klaus Wagenbach (Hrsg.): Erich Fried - Gesammelte Werke Bd. 2. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 1993)

Die Gedichte Die Maßnahmen und Literatur sind hier mit freundlicher Genehmigung des Verlags Klaus Wagenbach veröffentlicht.

 

Webtipps Erich Fried Erich Fried im Internet

Die Erich-Fried-Seite des Verlags Klaus Wagenbach, leider nur mit Flash-Plugin lesbar. Auf der österreichischen Literaturhaus-Website findet man Informationen der Erich-Fried-Gesellschaft. Detlef Berentzen bietet den Text zu einem Fried-Rundfunkfeature anlässlich des 15.Todestags. Dass Erich-Fried-Gedichte auch heute noch Anlass zu Diskussionen geben, zeigt der etwas skurrile Fall des Wiener Erich-Fried-Realgymnasiums.

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