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Epigramme

Die Wurzeln des Epigramms sind griechisch. Zunächst als einfache Inschrift auf Bauwerken oder Statuen erweiterte es sich im 4. Jahrhundert v.u.Z. zur Kurzpoesie mit großer Themenvielfalt und zum Teil satirischen Zügen.

Die klassische metrische Form ist daher das Distichon, doch das Formmerkmal Kürze wurde über die Jahrhunderte recht flexibel gehandhabt. Den größten Einfluss auf das deutsche Epigramm hatte jedoch kein Grieche, sondern der Römer Martial (etwa 40-100), dessen Verse im 17. Jahrhundert dutzende von Auflagen erfuhren.

Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803) stellt die Kräfteverhältnisse im deutschen Epigramm epigrammatisch dar:

Bald ist das Epigramm ein Pfeil,
Trifft mit der Spitze;
Ist bald ein Schwert,
Trifft mit der Schärfe;
Ist manchmal auch – die Griechen liebten’s so –
Ein klein Gemäld’, ein Strahl, gesandt
Zum Brennen nicht, nur zum Erleuchten.

 

Auf Martial basierten die theoretischen Überlegungen von Martin Opitz (1557-1639) im 17. Jahrhundert, die das deutsche Epigramm prägen sollten. Nach Opitz zeichnet sich das Epigramm durch Kürze und Spitzfindigkeit aus, die sich aus dem überraschenden Schluss ergibt, wie folgendes Beispiel aus Opitz’ Schaffen zeigt:

Epigramma
Dass er gezwungen würde in den Krieg zu ziehen

Ihr Götter, soll mich dann des schnöden Glückes Neidt
Nicht lassen? Muss ich mich begeben in den Streit?
Ach lasst mich, lasst mich hier, der Krieg ist nicht vonnöten,
Lasst mich bey meinem Lieb, sie kann mich besser tödten.

 

Dass dieser Tod eher orgiastisch gemeint sein könnte, entsprach dem Zeitgeist - auch heute kennt man noch den 'kleinen Tod'. Im Barock waren Lust und Tod Themen, die nah beieinander lagen. Hier ein Beispiel von Georg Rudolf Weckherlin (1584-1653), der zu seiner Zeit zu den bekanntesten Epigramm-Dichtern zählte:

Der Frauen M. v. Sherstehts Grabschrifft

Hie unden lieget nicht ohn Klag,
Die sunst ohn Klag stets unden lag.

 

Dieses Epigramm zeigt auch ein typisches Thema, das auf die griechische Wurzel zurückzuführen ist. Grabsteine zu beschriften entzündete immer wieder die Phantasie der Dichter. Friedrich von Logau (1604-1635), der 3500 Epigramme verfasst hat, meißelte Lust und Tod ebenfalls zusammen:

Grabschrift eines Speise- oder Kuchelmeisters

Der hier begraben liegt, der hielt sehr viel vom Essen
Und kann im Grabe noch des Essens nicht vergessen;
Denn weil er selbst nicht mehr die Essens-Lust kann büssen,
Gibt er sein eigen Fleisch den Würmern zu geniessen.

 

Andreas GryphiusAndreas Gryphius (1616-1664), einer der bekanntesten Barockdichter, bietet zwei weitere Grabschriften, wobei Letztere in die Nähe eines Rätselspruchs führt - auch eine Variante des Epigramms.

Grabschrifft eines gehenckten Seilers

Was diesen Leib erhält, muss oft den Leib verderben
Ich lebte von dem Strick und muss durch Stricke sterben.

Grabschrifft Laelii, welcher sich selbst erschossen

Hier liegt in einer Grufft, der Kläger, der beklagte,
Der Recht sprach, der gezeugt, und der die Zeugen fragte,
Und der das Recht ausführt, und der so musst erbleichen:
Du zählest Sieben zwar und findst nur eine Leichen.

 

Neben diesem handfesten, zwischen Lebenslust und Todeslast lavierenden Humor eignete dem Barock auch ein Hang ins Mystische und zur Lebensklugheit. Diese sollte in den weiteren Jahrhunderten zum festen Programm der Epigrammdichter gehören. An ostasiatisches Philosophieren erinnernde Kurzgedichte erscheinen jedoch fast nur im Barock:

Demuth

Ein hoher, starcker Baum muss von dem Winde liegen;
Ein niederträchtig Strauch, der bleibet stehn durch biegen.

(Friedrich von Logau)

Schweigendes Hören,
Hörendes Schweigen

Indem ich schweig, hab ich viel mehr von mir erfahrn,
Als vor mir ausgeschwätzt viel Weis’ in hundert Jahrn.

(Daniel Czepko von Reigersfeld, 1605-1660)

Das vermögende Unvermögen

Wer nichts begehrt, nichts hat, nichts weiß, nichts liebt, nichts will
Der hat, der weiß, begehrt, und liebt noch immer viel.

(Angelus Silesius, 1624-1677)

Ohne warumb

Die Ros ist ohn warumb, sie blühet, weil sie blühet,
Sie acht nicht ihrer selbst, fragt nicht ob man sie siehet.

(Angelus Silesius, 1624-1677)

Wichtiger Bestandteil des Oeuvres eines Epigramm-Dichters war von jeher die Sinneslust. Was die Barocker sehr derb anfassten, wandelte sich bei Friedrich von Hagedorn (1708-1754) zu einer feineren, hintersinnigen Erotik:

Unvermutete Antwort

Malthin, den Jüngling, fragt Macrin,
Den Rechtsgelehrsamkeit, Amt, Milz und Alter steift:
Wie nennst du einen Kerl, sprich, sprich, wie nennst du ihn,
Den man im Ehebruch ergreift?
Ich nenn' ihn langsam, spricht Malthin.


Das 18. Jahrhundert brachte auch die Rückbesinnung auf die griechische Epigrammform. Während Lessing (1729-1781; Epigramme von ihm unter Gotthold Ephraim LessingLessing) noch in der Tradition von Martin Opitz theorisierte, indem er die inhaltliche Form des Epigramms damit beschrieb, dass dieses zunächst Neugierde wecken solle, die hingehalten werde bis zum befreienden Schluss, legte Johann Gottfried Herder (1744-1803) den Schwerpunkt anders.

Unter dem Einfluss der Anthologia Graeca forderte er, statt Kürze und Pointe die Wesensmerkmale Einheit und Wirkung stärker zu beachten. „Die Seele des griechischen Epigramms ist Mitempfindung“, schrieb er. Unbewusst rückte er das Epigramm damit in die Nähe des japanischen HaikuHaiku.

Obwohl Herder die dichterischen Größen seiner Zeit in Briefen von seiner Sicht des Epigramms zu überzeugen suchte, stieg er nicht zum Sektierer ab, sondern versuchte beide Richtungen zu vereinen:

Zwo Gattungen des Epigramms

Dir ist das Epigramm die kleine geschäftige Biene,
Die auf Blumen umherflieget und sauset und sticht.
Mir ist das Epigramm die kleine knospende Rose,
Die aus Dornengebüsch Nektar-Erfrischungen haucht.
Lass uns beide sie dann in Einem Garten versammeln;
Hier sind die Blumen, o Freund, sende die Biene dazu.

 

Wie populär das Epigramm weiterhin war, lässt sich daran ersehen, dass selbst Großdichter wie SchillerSchiller und GoetheGoethe von ihren Säulen herabstiegen und sich am Meißeln von Sinngedichten beteiligten:

Venezianische Epigramme (8)

Diese Gondel vergleich ich der sanft einschaukelnden Wiege,
Und das Kästchen darauf scheint ein geräumiger Sarg.
Recht so! Zwischen der Wieg und dem Sarg wir schwanken und schweben
Auf dem Großen Kanal sorglos durchs Leben dahin.

(Johann Wolfgang Goethe, 1749-1832)

Erwartung und Erfüllung

In den Ozean schifft mit tausend Masten der Jüngling;
Still, auf gerettetem Boot, treibt in den Hafen der Greis.

(Friedrich Schiller, 1759-1805)

Ihr gemeinsames Epigrammwerk nannten die beiden Dichterheroen Xenien und trieben dabei ganz unvornehm ihre sprachlichen Spielchen:

Goldnes Zeitalter

Ob die Menschen im ganzen sich bessern? Ich glaub es, denn einzeln
Suche man, wie man will, sieht man doch gar nichts davon.

Das deutsche Reich

Deutschland? Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden.
Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf.

An die Philister

Freut euch des Schmetterlings nicht: der Bösewicht zeugt euch die Raupe,
Die euch den herrlichen Kohl fast aus der Schüssel verzehrt.

 

In den Fußstapfen von Schiller und Goethe tummelten sich bis ins 20. Jahrhundert hinein die verschiedensten Dichter, von dem eher unbekannten Johann Christoph Friederich Haug bis zu Wilhelm BuschWilhelm Busch. Dem Zeitgeist entsprechend standen Belehrung, die Wehmut der Romantik und Politik hoch im Kurs. Der eher deftige Tonfall des Barock spielte kaum noch eine Rolle.

Cäsar

Er kommt, er schaut, er siegt,
Er herrscht, er unterliegt.

(Johann Christoph Friederich Haug, 1761-1829)

Das Angenehme dieser Welt hab ich genossen,
Die Jugendstunden sind, wie lang! wie lang! verflossen,
April und Mai und Julius sind ferne,
Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne!

(Friedrich Hölderlin, 1770-1843)

Revolutionslichter

Der Franzose.
Revolutionen tadl’ ich nie,
Große Lichter erzeugen sie.

Der Deutsche.
Große Lichter, - bei meiner Seele!
Drum hängt man sie auch an Laternenpfähle.

(Ignaz Franz Castelli, 1781-1862)

Vom Guten zum Bösen ist kein Sprung,
Der Übergang ist unmerklich gemacht,
Wie der Tag durch die Dämmerung
Sich verliert zur Nacht.

(Friedrich Rückert, 1788-1866)

Regel

Willst die Bescheidenheit du des Bescheidenen prüfen, so forsche
Nicht ob er Beifall verschmäht; ob er den Tadel erträgt!

(Franz Grillparzer, 1791-1872)

Vorsicht des Patrioten

Süß fürs Vaterland sterben! Doch möcht’ ich schließlich dabei sein,
Wenn man beim Siegesbankett seine Gefallnen beklagt.

(Eduard von Bauernfeld, 1802-1890)

Meist in Wagen, die nicht federn,
Selten nur auf Gummirädern
Fährt der Mensch durch diese Welt,
Bis er in den Graben fällt.

(Wilhelm Busch, 1832-1908)

Auch im 20. Jahrhundert fand das Epigramm noch immer seine Nische. Als bekannteste Vertreter wären Bertolt BrechtBertolt Brecht und Erich KästnerErich Kästner zu nennen. Kürze und Einfachheit machten und machen es natürlich auch zur Spielwiese von allerlei Hobbydichtern, obwohl das Epigramm inzwischen durch das HaikuHaiku Konkurrenz aus Fernost ertragen muss.

Letztlich steht dahinter immer die Hoffnung, jene Kleinigkeit dem dichterischen Wortfluss hinzufügen, die noch lange Zeit mit dem Strom schwimmt:

Worte

Manche Worte gibt’s, die treffen wie Keulen. Doch manche
Schluckst du wie Angeln und schwimmst weiter und weißt es noch nicht.

(Hugo von Hofmannsthal, 1874-1929)

Webtipps Epigramme Epigramme im Internet

Egon Gottwein bietet eine große Auswahl der Epigramme Martials in Lateinisch und Deutsch an. Das Barock und viele seiner Dichter werden im Studio für alte deutsche Literatur vorgestellt, mit dabei natürlich auch immer wieder Epigramme. Goethes komplette Ausgabe der venezianischen Epigramme findet man bei Wissen im Netz.

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