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Englische Gedichte

Mehr als ein Blick durchs Schlüsselloch in die Schatzkammer englischsprachiger Lyrik, die eine ungewöhnlich große und weitausstrahlende Tradition besitzt, ist im hiesigen Rahmen und in Übersetzungen nicht möglich. Weder können alle Epochen bis ins 19. Jahrhundert oder auch nur die wichtigsten Autoren einbezogen werden. Doch ein roter Faden von Stimmung und Ton, der natürlich nichts Anderes ausschließt, bot sich zur Verfolgung an. Beginnen wir mit zwei Beispielen für die beiden großen Themen der Poesie aus der ersten Glanzzeit der englischen Literatur im Elisabethanischen Zeitalter Ende des 16. Jahrhunderts. Sidney und Beaumont folgt dann der mit Abstand berühmteste Dichter jener Zeit, William ShakespeareShakespeare, an den sich der etwas spätere, durch sein Epos "Das verlorene Paradies", weltberühmte Milton ebenfalls mit dem Leitmotiv der Vergänglichkeit anschließt.

 

O Kuss, du Spender rötlicher Juwelen,
Wie, oder neuer Paradiesesfrüchte?
Der du mit Süßigkeit durchströmst die Seelen,
Den stummen Mund lehrst edlere Gedichte;

O Kuss, in des Naturbanns Zauberdichte
Mit Geistern Geister selber sich vermählen;
Wie gern ließ ich dich schaun im hellsten Lichte,
Könnt ich auch nur ein Teil von dir erzählen!

Doch sie verbeuts; errötend spricht ihr Mund,
Sie bau ihr Lob auf ehrenwerten Grund;
Doch mein Herz brennt, ich kann das Wort nicht missen.

Drum, liebes Leben, wenn ich still sein soll,
Und doch nicht ruhn kann vor Entzücken toll,
Musst du, mich stillend, immer immer küssen.

(Sir Philip Sidney, 1554-1585
übersetzt von Johann Gottlob Regis)

Auf die königlichen Gräber in Westminster

Ihr Staubgebornen, bebt und seht,
Wie rasch das Fleisch allhier vergeht.
Manch ein königlich Gebein
Schläft in diesem Haufen Stein.
Für die einst Kronen nicht zu schwer,
Hier regen sie die Hand nicht mehr.
Noch predigt aus dem Staub ihr Bass,
Dass auf Größe kein Verlass.
Fürwahr, ein Acker, Zoll an Zoll,
Vom königlichen Samen voll,
Den mit der Sünde, die sie bog,
Die Erd in ihre Furchen sog.
Die Würfel fielen, wo sie ruhn:
Die Götter einst, sind Menschen nun,
Auf kahlen Sand unedlen Ruhms
Vertropfter Schaum des Königtums -,
Eine Welt von Pomp und Glück
Zum Staub gelegt vom Augenblick.

(Francis Beaumont, 1584-1616;
Übersetzer unbekannt)

Sonett LXV

Kein Erz und Stein ist, Erde nicht und Flut,
Die die Vergänglichkeit nicht schlägt in Trümmer,
Wie trotzt die Schönheit solcher trüben Wut,
Da sie nicht stärker als ein Blütenschimmer?
Ach, wie soll Sommers süßer Hauch bestehn
In dem Zerstörungskampf der vielen Tage,
Da mächtige Felsen selbst in Stücke gehn,
Eherne Gitter brechen von dem Schlage?
O furchtbar Denken! Wie soll ich behüten
Der Zeiten lieblichst Kleinod vor der Zeit?
Wer hemmt den schnellen Fuß, des Alters Wüten?
Wer schützt die Schönheit vor Vergänglichkeit?

Ach, niemand, wenn dies Wunder nicht geschieht,
Dass hell aus schwarzer Schrift mein Lieben glüht.

(William Shakespeare, 1564-1616;
aus dem Englischen von Terese Robinson;
siehe auch die alternative Regis-Übertragung in William ShakespeareShakespeare)

An die Zeit

Flieh neidsche Zeit, bis du dein Ziel erreichet,
Beschleunige der Stunden schweren Gang,
Des Eile nur dem Schritt des Senkbleis gleichet,
Es sättige dich was dein Rachen schlang,
Das Eitle, Falsche, denn nur das wird dein,
Nur Erdentand und Staub;
So wenig ist dein Raub,
Und der Verlust so klein.
Wirst endlich alles Böse du begraben,
Zuletzt die eigne Gier verzehret haben,
Dann nahet Ewigkeit mit hohem Gruß
Und bringt den unteilbaren Kuss;
Und einer Flut gleich wird die Freude steigen,
Wenn jedes wahrhaft Gute sich wird zeigen,
Das Göttliche hell scheinen
Und Wahrheit, Friede, Liebe sich vereinen
Um dessen Thron zu schweben,
Zu dem wir uns im Himmelsflug erheben,
Ihn anzuschaun durch alle Ewigkeit,
Tief unter uns die dunkle Erdenbahn,
Ruhn ewig wir, in Sternen angetan,
Erhaben über Zufall, Tod und dich, o Zeit.

(John Milton, 1608-1674;
übersetzt von Arthur Schopenhauer)

Es gibt selten ein Beispiel für ein Gedicht, das für seine Epoche so repräsentativ ist und bis heute vielfach zitiert wird wie die folgende, 1751 erschienene Elegie von Thomas Gray. Das berühmteste englische Gedicht des 18. Jahrhunderts drückt vor allem die Religiosität und Moralität der Empfindsamkeit aus, einer europaweit wirksamen Geistesbewegung.

Elegie, geschrieben auf einem Dorfkirchhof

Die Abendglocke tönt den Tag zur Ruh,
Die Herden schleichen blökend im Revier,
Der Pflüger rudert schwer der Hütte zu
Und lässt die Welt der Dunkelheit und mir.

Der Glanz der Gegend schmilzt nun Zug für Zug,
Und tiefe Feierstille hält die Luft;
Der Käfer dröhnt nur dort noch seinen Flug,
Wo Schlummerklang zum fernen Pfürche ruft.

Nur dort tönts noch durch alte Rudera,
Wo es der Eule Murrsinn Lünen klagt,
Dass noch ein Wandrer, ihrer Grotte nah,
Ihr ödes Heiligtum zu stören wagt.

An dieser Ulme, diesem Eschenbaum,
Wo sich der Grund in Moderhügeln hebt,
R uhn rohe Ahnen in dem engen Raum,
Die in dem kleinen Dörfchen einst gelebt.

Des Morgens Balsamduft am Lindengang,
Vom Binsendach der Schwalbe Wirbellauf,
Des Hahnes Krähn, des Hornes Widerklang
Weckt sie nicht mehr vom kleinen Lager auf.

Für dich brennt nun der gute Herd nicht mehr;
Kein Hausweib sorgt für deinen Abendgruß;
Kein Knabe lauscht des Vaters Wiederkehr
Und klimmt mit Neid am Knie um einen Kuss.

Oft sank das Korn in ihrer Eisenhand;
Oft riss das Blachfeld unter ihrem Pflug:
Wie fröhlich trieb ihr Fuhrwerk über Land!
Wie fiel der Wald, wenn ihre Sehne schlug!

Verspotte nie der Ehrgeiz ihre Müh,
Ihr unbekanntes Glück, ihr kleines Fest;
Hohnlächle nie die Größe über sie,
Wenn sie das Buch der Armut lesen lässt.

Der Wappen Prahlerei, der Pomp der Macht,
Was je der Reichtum und was Schönheit gab,
Sinkt unerlöslich hin in eine Nacht:
Der Pfad der Ehre führet nur ins Grab.

Ihr Stolzen, rechnet es nicht ihnen an,
Wenn auf ihr Grab der Ruf nicht Marmor hebt,
Wo durch das Chorgewölbe himmelan
Des Lobes Note schwellend widerbebt!

Ruft je der Urne, ruft der Büste Laub
Mit Künstlergeist den fliehnden Hauch empor?
Belebt des Ruhmes Stimme je den Staub?
Rührt Schmeichelei des Todes kaltes Ohr?

Vielleicht in diesem dunklen Winkel ruht
Ein Herz, auch einst von Götterfeuer warm,
Und Hände für der Laute Feuerglut,
Und für des Zepters Schwung ein Heldenarm.

Doch Wissenschaft entrollt ihr großes Buch,
Reich von der Zeiten Raub, nicht ihrem Blick:
Der starre Mangel hemmt den Kraftversuch
Und drängt der Seele Schöpferstrom zurück.

Des Meeres fadenloser Boden hält
So manche Perle, deren Farbe glüht,
Und manches Lenzes schönste Blume fällt,
Die ungenossen in der Wildnis blüht.

Hier schläft vielleicht ein Hampden, dessen Mut
Dem kleinen Dorftyrannen widerstand,
Ein stummer Milton unbekannter Glut,
Ein Cromwell, schuldlos an dem Vaterland!

Ihr Los war nicht des Beifalls Jubelton,
Nicht in dem Schmerz die stolze Apathie;
Sie sahn sich nicht im Blicke der Nation,
Der ihre Weisheit Überfluss verlieh.

Ihr Jugendflug, ihr Lasterlauf begrenzt,
Verbot ihr Los den Weg zu einem Thron,
Der von dem Blute der Erschlagnen glänzt,
Oft allem wahren Menschensinne Hohn.

Glewissensangst war ihnen Strahlenlicht,
Erstickt war nie die Röte holder Scham;
Sie opferten dem Stolz der Schwelger nicht
Mit Weihrauch, den man frech der Muse nahm.

Fern von des Torenhaufens niederm Zank,
Verirrte nie sich ihre Nüchternheit;
Geräuschlos wandelten sie ihren Gang
Durchs kühle, stille Tal der Lebenszeit.

Ein kleines Denkmal, das als Ehrenschild
Nur ihren Staub vor Schmähsucht decken soll,
Ein harter Reim, ein schlecht geformtes Bild
Verlangen eines Seufzers leichten Zoll.

Ihr Nam, ihr Jahr von ungelehrter Hand
Ist ihnen mehr als Ruhm der Dichtung wert,
Und ländlich zieht die Muse rund am Rand
Den Spruch der Bibel, welcher sterben lehrt.

Am Freunde hing der Geist noch, als er schied,
Die Zähre tat noch dunkeln Augen gut;
Auch aus dem Grabe ruft Natur ihr Lied,
Und in der Asche lebt die alte Glut.

Von mir, der ich von meinen Brüdern hier
Ganz ohne Kunst das kleine Lied gesagt,
Wenn einsam in Betrachtungen nach mir
Einst eine reinverwandte Seele fragt,

Von mir spricht einst vielleicht ein greiser Mann:
"Oft, wenn das Morgenrot im Osten hing,
Sahn wir ihn, wie er schnell den Berg hinan
Der Morgensonn im Tau entgegen ging.

Dort, wo die Buche, deren Wurzel weit
Und hoch sich windet, an dem Ufer nickt,
Lag er am Mittag mit Behaglichkeit
Lang über jenen Kieselbach gebückt.

Verächtlich lächelnd schlich er dort herum
Am Walde, Grillen murmelnd und betrübt,
Wehmütig, wie verloren, bleich und stumm,
Wie Einer, welcher ohne Hoffnung liebt.

Einst sah ich früh ihn an dem Hügel nicht,
Nicht auf der Heide, nicht am Lieblingsbaum,
Noch misst ich ihn am zweiten Morgenlicht
An seinem Bach und an des Waldes Saum.

Am dritten Tag erschien ein Leichenzug,
Der langsam ihn den Kirchengang herab
Mit Totenmelodie zur Ruhe trug;
Komm, lies; dort deckt ein kleiner Stein sein Grab."


Die Grabschrift

Sanft legt sein Haupt hier in der Erde Schoß
Ein Jüngling, der nie Glück und Ruhm gekannt;
Der Muse Lächeln war sein bestes Los,
Und Schwermut hat zum Liebling ihn ernannt.

Groß war sein Herz und seine Seele schlicht;
Des lohnt' ihm auch des Himmels Güte sehr.
Mit Armen weint' er, und mehr konnt er nicht;
Es ward ein Freund ihm, und er bat nicht mehr.

Sucht sein Verdienst nicht weiter darzutun,
Gebt seine Schwachheit nicht dem Tadler bloß;
Lasst beide sie in banger Hoffnung ruhn
In seines Vaters, seines Gottes Schoß.

(Thomas Gray, 1716-1771;
übersetzt von Johann Gottfried Seume)

Grays seelenvolle Verse sind auch schon ein Vorklang der Romantik, ähnlich wie die im folgenden als Erstes zitierten volkstümlichen Verse des schottischen Bauernsohns Burns. Wie diese beiden oft von Abschiedsstimmung und Flüchtigkeit des Daseins geprägt folgen drei wichtige Vertreter der Romantik. Diese brachte im englischen Sprachraum zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Blüte der Lyrik wie in keiner anderen Sprache hervor:
Southey, der vom revolutionären Wegbereiter zu einem konservativen Staatsdichter mutierte, Byron, der die europaweite Weltschmerzpoesie im 19. Jahrhundert initiierte, und der jung gestorbene Shelley, der sprachliche Schönheit und Sozialkritik (siehe sein An Englands Männer in Politische GedichtePolitische Gedichte) verband. - Gleiches gilt auch für John Keats, der hier nicht fehlen dürfte, aber mit La belle Dame sans Merci in BalladenBalladen und Grashüpfer und Heimchen in Gedichte der RomantikGedichte der Romantik nachzulesen ist.

 

Mein Herz ist im Hochland, mein Herz ist nicht hier;
Mein Herz ist im Hochland, im waldgen Revier.
Da jag ich das Rotwild, da folg ich dem Reh,
Mein Herz ist im Hochland, wo immer ich geh.

Mein Norden, mein Hochland, lebt wohl, ich muß ziehn;
Du Wiege von allem, was stark und was kühn,
Doch wo ich auch wandre und wo ich auch bin,
Nach Hügeln des Hochlands steht allzeit mein Sinn.

Lebt wohl, ihr Gebirge mit Häuptern voll Schnee,
Ihr Schluchten, ihr Täler, du schäumende See,
Ihr Wälder, ihr Klippen, so grau und bemoost,
Ihr Ströme, die zornig durch Felsen ihr tost.

Mein Herz ist im Hochland, mein Herz ist nicht hier;
Mein Herz ist im Hochland, im waldgen Revier.
Da jag ich das Rotwild, da folg ich dem Reh,
Mein Herz ist im Hochland, wo immer ich geh.

(Robert Burns, 1759-1796;
übersetzt von Ferdinand Freiligrath)

Die Stechpalme

O Leser, hast du je betrachtet die
Stechpalme? - Sieh
Ihr glattes Laub, wie eine weise Hand
Es zum Gewand
Dem Baume gab, so sinnig, dass daran
Des Atheisten Klugheit scheitern kann.

Denn unten, wie ein Zaun von Dornen, starrt
Es scharf und hart;
Kein weidend Vieh durch diesen spitzen Saum
Verletzt den Baum.
Doch oben, wo die Rinde nichts befährt,
Wird stachellos das Laub und unbewehrt.

Dies ist ein Ding, wie ich's betrachten mag;
Gern denk ich nach
Des Baumes Weisheit; seiner Blätter Zier
Reicht willig mir
Ein Sinnbild für ein Lied, das lange Zeit
Nach mir vielleicht noch nutzt und auch erfreut.

Nun, schein ich draußen auch zuweilen rau
Und herbe; schau
Ich finster auch, wenn mich am stillen Herd
Ein Läst'ger stört:
Doch streb ich, dass ich Freunden, gut und treu,
Sanft wie das Laub hoch auf der Stechpalm sei.

Und heg ich jung, wie wohl die Jugend tut,
Auch Übermut
Und Trotz, doch schaff ich, dass ich jeden Tag
Sie mindern mag:
Bis ich im hohen Alter, mild von Sinn,
Gleich dieses Baumes hohen Blättern bin.

Und wie, wenn alle Sommerbäume grün
Dastehn und blühn,
Die Blätter dieses einz'gen Baumes nie
So glühn wie sie,
Doch spät im öden Winter uns allein
Mit ihrem dunklen Immergrün erfreun:

So auch in meinen Jugendtagen will
Ich ernst und still
Im Kreis der Jugend sein, die unbedacht
Des Ernstes lacht,
Auf dass mein Alter frisch und fleckenfrei
Gleich dieses Baumes grünem Winter sei.

(Robert Southey, 1774-1843;
übersetzt von Ferdinand Freiligrath)

Originaltext noch nicht vorhanden

Abschied von England vor seiner Reise nach Lissabon

Leb wohl! leb wohl! im blauen Meer
Verbleicht die Heimat dort.
Der Nachtwind seufzt, wir rudern schwer,
Scheu fliegt die Möwe fort.

Wir segeln jener Sonne zu,
Die untertaucht mit Pracht.
Leb wohl, du schöne Sonn, und du,
Mein Vaterland - gut Nacht!

Mit dir, mein Schiff, durchsegl ich frei
Das wilde Meergebraus.
Frag nicht, nach welchem Land es sei,
Nur trag mich nicht nach Haus!

Seid mir willkommen, Meer und Luft!
Und ist die Fahrt vollbracht,
Seid mir willkommen, Wald und Kluft!
Mein Vaterland - gut Nacht!

(George Gordon Lord Byron, 1788-1824;
übersetzt von Heinrich Heine)

Wechsel

Wir gleichen Wolken, die den Mond verhüllen;
Wie blinkend sie in rastlos ziehnder Jagd
Mit streifigem Licht die Dunkelheit erfüllen,
Doch bald auf ewig schwinden in die Nacht!

Dem Saitenspiele auch, verstimmt, verschollen,
Dem jeder Wind entlocket andern Ton,
Und dem beim nächsten Hauche nie entquollen
Derselbe Klang, der eben ihm entflohn.

Wir ruhn - ein Traum kann unsern Schlaf vernichten;
Wir wachen - ein Gedanke trübt den Tag;
Wir fühlen, lachen, weinen, denken, dichten,
In Weh und Jubel bebt des Herzens Schlag:

Es bleibt sich gleich! - Der Freude wie den Sorgen
Ist stets zum Flug die Schwinge ausgespannt;
Des Menschen Gestern gleichet nie dem Morgen,
Und nichts als nur der Wechsel hat Bestand.

(Percy Bysshe Shelley, 1792-1822;
übersetzt von Adolf Strodtmann)

Auch im weiteren 19 Jahrhundert bleibt Vergänglichkeit ein zentrales lyrisches Moment, ein Nachklang des Glaubens der Romantik an die Wirkungsmacht der Poesie findet sich etwa bei Elizabeth Barrett Browning. Ein Exempel für die damals einsetzende überseeische Ausstrahlung englischer Literatur ist der ebenso innovative wie traditionsverbundene Amerikaner Poe. Zur thematischen Abrundung greift Tennyson als Vertreter der viktorianischen Dichtung noch einmal direkt den Ausgangspunkt dieser kleinen Sammlung mit den beiden großen alten Themen der Literatur auf.

 

Du hast, mein Dichter, alle Macht zu rühren
An Gottes äußersten und letzten Kreis
Und aus des Weltalls breitem Brausen leis
ein Lied zu lösen und es hinzuführen

Durch klare Stille. Deine Heilkunst weiß
Ein Gegengift zu finden, dessen Kraft
Seihst Aufgegebene noch rätselhaft
Za retten scheint. Gott gab dir das Geheiß

Dieses zu tun, so wie er mir befahl
Zu tun nach deinem Wort. Was soll ich sein:
Vergangnes oder Kommendes, dass dein

Gesang es grüße oder es beweine?
Ein Schatten, der dich mahnt an Palmenhaine?
Ein Grab, dabei du ruhst? - Du hast die Wahl.

(Elizabeth Barrett Browning, 1806-1861
übersetzt von Rainer Maria Rilke)

Annabel Lee

Ist ein Königreich an des Meeres Strand,
Da war es, da lebte sie –
Lang, lang ist es her – und sie sei euch genannt
Mit dem Namen Annabel Lee.
Und ihr Leben und Denken war ganz gebannt
In Liebe – und mich liebte sie.

In dem Königreich an des Meeres Strand
Ein Kind noch war ich und war sie,
Doch wir liebten mit Liebe, die mehr war denn dies -
Ich und meine Annabel Lee –
Mit Liebe, dass strahlende Seraphim
Begehrten mich und sie.

Und das war der Grund, dass vor Jahren und Jahr
Eine Wolke Winde spie,
Die frostig durchfuhren am Meeresstrand
Meine schöne Annabel Lee;
Und ihre hochedele Sippe kam,
Und ach! man entführte mir sie,
Um sie einzuschließen in Gruft und Grab,
Meine schöne Annabel Lee.

Die Engel, nicht halb so glücklich als wir,
Waren neidisch auf mich und auf sie –
Ja! das war der Grund (und alle im Land
Sie wissen, vergessen es nie),
Dass der Nachtwind so rau aus der Wolke fuhr
Und mordete Annabel Lee.

Weit stärker doch war unsre Liebe als die
All derer, die älter als wir –
Und mancher, die weiser als wir –
Und die Engel in Höhen vermögen es nie
Und die Teufel in Tiefen nie,
Nie können sie trennen die Seelen von mir
Und der schönen Annabel Lee.

Kein Mondenlicht blinkt, das nicht Träume mir bringt
Von der schönen Annabel Lee,
Jedes Sternlein das steigt, hell die Augen mir zeigt
Meiner schönen Annabel Lee;
Und so jede Nacht lieg zur Seite ich sacht
Meinem Lieb, meinem Leben in bräutlicher Pracht:
Im Grabe da küsse ich sie –
Im Grabe da küsse ich sie.

(Edgar Allan Poe, 1809-1849;
übersetzt von Theodor Etzel)

Liebe und Tod

Die Liebe schritt, als voll das Mondlicht schien,
Des Paradieses Thymianflur entlang
Und spähte hell umher auf ihrem Gang.
Da sah sie plötzlich unterm Eibenbaum
Alleine wandelnd, redend wie ein Traum,
Den Tod; zum ersten Male sah sie ihn.
Flieh, sprach der Tod; denn dieser Pfad ist mein!
Die Liebe weint' und wandte sich, zu fliehn;
Doch scheidend sprach sie: Diese Stund ist dein;
Du bist des Lebens Schatten; wie der Baum
Im Sonnenlicht beschattet rings die Matten,
So wirft im lichtbestrahlten Weltenraum
Das große Leben rings des Todes Schatten;
Der Schatten schwindet mit des Baumes Fall,
Ich aber herrsche ewig ob dem All.

(Alfred Lord Tennyson, 1809-1892;
übersetzt von Adolf Strodtmann)

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